Donald Trump ist der Elefant im politischen Porzellanladen Amerikas, Europa steht in der Flüchtlingskrise vor einer Zerreißprobe, weltweite religiöse und kulturelle Konflikte bestimmen die Schlagzeilen – was hätte Hannah Arendt dazu gesagt?

Frau Brocke, als Hannah Arendts Großnichte verfolgten Sie 1961 an ihrer Seite den Eichmann-Prozess. Heute, mehr als vierzig Jahren nach dem Tod ihrer Großtante, fragt eine Fernsehdokumentation nach der Aktualität ihres Denkens. Wo greifen die Gedanken Hannah Arendts in Ihrem Alltag besonders?

Dass Hannahs Sicht auf die Dinge auch noch so lange nach ihrem Tod wahrgenommen werden würde, konnte keiner ahnen. Oft haben meine Eltern, meine Schwester und ich uns gefragt, was Hannah zu diesem und jenem gesagt hätte. Wir wissen es ja nicht, aber es ist vor allem ihre Art zu fragen, die vielen in Erinnerung blieb. Im Falle der Ukraine, zum Beispiel: Inwieweit ist dort der Totalitarismus überwunden? Hat es dort überhaupt eine Befreiung aus den totalitären Strukturen und Gesinnung gegeben? Auch hinsichtlich dessen, wie Systeme funktionieren, hatte Hannah einen erhellenden Aspekt beigetragen, zum Beispiel durch ihre Einschätzung Adolf Eichmanns als „Hans Wurst“. In weiten Teilen der jüdischen Gemeinschaft hatte man allerdings ihren Prozess-Bericht damals – in unterschiedlicher Weise – kritisiert. Und auch ich hatte anfänglich Probleme, Hannahs Sichtweise hier in Gänze zu verstehen.

Das war Hannah Arendt immer das Wichtigste, das Verstehen. Wann setzte es bei Ihnen ein, im Blick auf den Eichmann-Bericht?

Als ich viel später in Essen die Leitung der Begegnungsstätte „Alte Synagoge“ übernahm, einer städtischen Einrichtung, begann ich zu verstehen, was es bedeutet, in eine Hierarchie eingebunden zu sein und Menschen zu begegnen, die primär darauf bedacht sind, die eigene Beförderung anzustreben, eine Unterordnung zu bevorzugen, anstatt über das eigene Tun nachzudenken. Eichmann hat ja wirklich niemanden getötet. Aber das beflissentliche Organisieren der Züge „in den Tod“ hat bei ihm kein Nachdenken hervorgerufen. Ansatzpunkte, um unsere Neugier zu befriedigen – „Was hätte Hannah hierzu gesagt?“ –, gibt und gab es zahlreiche. Aber sicher ist es immer primär unsere Phantasie, die uns sagt, was sie gedacht haben könnte. Da sich die Situation in der Welt gewaltig verändert hat, wird es zunehmend schwieriger, dieser Phantasie freien Lauf zu gewähren und zu rätseln, was Hannah zu den Ereignissen in Köln oder zum Wahlkampf in den Vereinigten Staaten oder zu Trump im Besonderen gesagt hätte.

Zu Donald Trump vermutlich nichts mehr. Wen würde sie wohl wählen?

Nein, da wäre wahrscheinlich auch ihr nicht mehr viel eingefallen. Dabei ist es in der Tat schwer zu sagen, wen Hannah wählen würde. Da sie immer die Demokraten gewählt hatte, bin ich ziemlich sicher, dass sie auch dieses Mal diese Partei wählen würde, auch wenn sie vermutlich weder von Clinton noch von Sanders besonders überzeugt wäre. Als ich sie einst fragte, wen sie wählen würde, bekam ich eine merkwürdige Antwort: „AbN“. Das sei doch keine Partei, fragte ich zurück, und Hannah lachte fröhlich: Anything but Nixon!

Und Köln? Man kann sich nur schwer vorstellen, dass man keinen Artikel von ihr dazu in den Tageszeitungen gefunden hätte.

Es stimmt, das hätte sie sehr bestürzt und wütend gemacht. Dabei war Hannah gewiss keine Feministin, zumindest nicht nach den heutigen Begriffen, aber sie war eine sehr bewusste Frau. Sie hätte vor allem das Versagen des Staates und seiner Ordnungskräfte kritisiert. Und auch über den weiteren Verlauf des Diskurses wäre sie wohl enttäuscht gewesen, denn für sie war gemeinsames Handeln immer wichtig.

Der Staat hätte in Hannah Arendts Augen in seiner Pflicht des gemeinsamen Handelns gefehlt? Aber welches Gefühl kommuniziert man einer mitunter ziemlich besorgten Bevölkerung?

Auf keinen Fall Mitleid! Das wäre Hannah sehr wichtig gewesen: Mitleid darf ihrer Meinung nach deshalb bei politischen Entscheidungen keine Rolle spielen, weil in der Politik eine rationale Grundlage für Entscheidungen unverzichtbar ist. Natürlich ist das kein Widerspruch zu Empathie, die durchaus zuweilen auch ein Hintergrund für eine rationale Entscheidung sein kann, aber realpolitische Probleme fordern realpolitische Lösungen. Mitleid im Sinne, wie Hannah es auch begriffen hat, ist Mitleiden. Exemplarisch für diese Unterscheidung ist Friedrich Nietzsches Leiden an jenem Gefühl des Mitleidens.

Als er in Turin einem Pferd, das geschlagen wurde, weinend um den Hals fiel…

… weil er am Leid des Pferdes Anteil hatte.

Im Bändchen „Ich will verstehen“ berichtet Hannah Arendt, wie sie ihren jüdischen Religionslehrer aus dem Konzept bringen wollte. Sie stand im Unterricht auf und sagte: „Ich glaube nicht an Gott.“ Der Lehrer antwortete gelassen: „Wer hat das von dir verlangt?“ Wie würde Ihre Großtante Ihrer Ansicht nach wohl über religiöse Konflikte heute denken?

Das hat mit ihrem Jüdisch-Sein zu tun, weil es im Judentum weder die Erwartung, noch einen Zwang „zum Glauben“ gibt. Das hat der Lehrer ihr wunderschön vermittelt. Zugleich gehörte zu diesem jüdischen Hintergrund, dass ihr Gerechtigkeit besonders wichtig war, insbesondere dann, wenn es um Rechtsstaatlichkeit ging. Es geht um eine Übereinkunft von Werten, an denen die Mitglieder des Gemeinwesens gemeinsam festhalten wollen.

Wie sieht in Ihren Augen die heutige Pflicht zum Ungehorsam aus, wenn man an Hannah Arendts berühmtes „Denken ohne Geländer“ denkt? Wo tut Ungehorsam Not?

Ungehorsam gegen wen? Gegen was? Ich weiß auch nicht, ob es so etwas wie eine „Pflicht“ zum Ungehorsam geben kann. Hannah hätte das fehlende Einhalten rechtsstaatlicher Grundsätze sowohl in der Bundesrepublik als auch in der EU beklagt. Was für Hannah grundsätzlich negativ konnotierte war, war Mitläufertum, aber Widerstand befürwortete sie nur dort, wo Recht überschritten oder missachtet wurde. Eigenständig denken und dafür einstehen, das war ihr Lebensmotto. Hannah hat immer gesagt, was sie dachte, und gedacht, was sie sagte.

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Edna Brocke wurde 1943 in Jerusalem geboren und lebt seit 1968 in Deutschland. Die Judaistin gehört zu den Herausgebern der Zeitschrift „Kirche und Israel“ und leitete bis 2011 die Begegnungsstätte „Alte Synagoge – Haus jüdischer Kultur“ in Essen.

Die Dokumentation Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam läuft heute, Mittwoch, um 21.55 Uhr auf Arte.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 09.03.2016