Pressestimmen

Kein Zickenfox – Hier dürfen nur Frauen mitspielen

66 Frauen, 21 Instrumente, unterschiedlichste Biografien und Lebensentwürfe – das ist das semi-professionelle Frauenblasorchester Berlin. Einmal in der Woche treffen sich die Musikerinnen zur Probe. Sie spielen Jazz, Pop und Klassik – in Bierzelten, Turnhallen und Konzertsälen. Astrid Graf, Musikerin mit Klarinettendiplom, hat das Ensemble ins Leben gerufen und leitet es seitdem. Der Dokumentarfilm „Kein Zickenfox“ über die Frauentruppe kommt am 17. März in die Kinos.

Ein bunter Haufen, dieses Frauenblasorchester Berlin. Da sitzt die Polizeibeamtin neben der Rechtsanwältin, die Lesbe neben der alleinerziehenden Mutter, die Ossie neben der Wessie. Und alle wollen sie Musik machen: „Ich kann mich da ausleben. Mit dem was ich fühle, wie ich denke, wie ich bin. Ich bin manchmal mehr Mensch in der Musik, als ich das sonst bin“, sagt Astrid Graf, die Dirigentin. Und ist selbst ein bisschen erstaunt darüber, was sie da sagt. Doch das ist das Geheimnis ihrer Truppe: gelebtes  Miteinander, aus Spaß an der Freude, ohne große Worte. Frauen, die alle ihr Leben haben – und die diesem Leben mit der Musik noch eins draufsetzen. Egal, aus welchem Grund.

Schlaglichtartig erschließt sich in diesem Film der Kosmos seiner Protagonistinnen. Pointierte, rasch hintereinander geschnittene Statements machen uns mit den Musikerinnen bekannt. Und wechseln sich ab mit liebevollen, gemächlichen Portraits: die Biobäuerin bei der Arbeit auf dem Feld; die Pfarrerin im Ruhestand, die ihr reiches Leben resümiert. Und Margrit, die Posaunistin, die nach schwerer Krankheit – zumindest für kurze Zeit – ins Orchester, in ihre musikalische Heimat zurückkehrt. Ihr ist der Film gewidmet.

Kein Kommentar aus dem Off macht sich während dieser 70 Minuten wichtig; die Geschichte erklärt sich selbst. Für die Stimmung, für Melancholie und Witz sorgen die Frauen – und die Kamera. Sie verharrt, als sich zu Beginn der wöchentlichen Probe alle einstimmen, auf der Schlagzeugerin, die ungerührt eine Stulle verdrückt – sie hat ja noch nichts zu tun und ist in einem Blasorchester zweifellos privilegiert: „Schlagzeug spielen ist eigentlich optimal“, freut sie sich. „Du kannst Luft holen, wann du willst, du kannst dabei essen und du kannst Lippenstift tragen.“

„Kein Zickenfox“ – der Film erzählt auch vom täglichen Kampf um Anerkennung. Und davon, wie schwierig es ist, in ein „demokratisch“ geführtes Orchester so was wie „Zug“ reinzubringen. Und er erzählt mit unglaublicher Leichtigkeit davon, wie schön es ist, wenn ganz unterschiedlichen Menschen mit Musik was Gemeinsames – und was Besonderes – gelingt. „Musik hat mir auch immer geholfen, empfindlich zu bleiben fürs Leben“, sagt eine der Musikerinnen. „Sensibel zu bleiben für all das, was um mich herum passiert.“

BR KLASSIK, 16.03.2016

Kein Zickenfox

Einmal pro Woche treffen in Berlin-Kreuzberg 66 Frauen zwischen Anfang 20 und Mitte 70, ihre 21 Instrumente und die unterschiedlichsten weiblichen Biografien und Lebensentwürfe aufeinander. Ihr Ziel: gemeinsam musizieren.

Der Film, Gewinner von bislang fünf Publikumspreisen, zeigt, wie dieses außergewöhnliche Ensemble auch die Privatleben der Beteiligten bereichert und wie es 66 ganz „normale“ Frauen schaffen, etwas Großartiges gemeinsam auf die Bühne zu stellen.

Eine Produktion in Zusammenarbeit mit dem Frauenblasorchester Berlin, das seit 2003 unter der Leitung von Astrid Graf musiziert. Es gab Auftritte in Bierzelten, Gärten und auch in der Philharmonie Berlin. Von Jazz über Pop zu Klassik, das Orchester ist neugierig und probiert alles mal aus, Hauptsache die Freude an der Musik bleibt nicht auf der Strecke.

D 2014, Regie: Dagmar Jäger & Kerstin Polte
Frauenblasochester Berlin

Hannah Arendt – Eigenständig denken war ihr Lebensmotto

Donald Trump ist der Elefant im politischen Porzellanladen Amerikas, Europa steht in der Flüchtlingskrise vor einer Zerreißprobe, weltweite religiöse und kulturelle Konflikte bestimmen die Schlagzeilen – was hätte Hannah Arendt dazu gesagt?

Frau Brocke, als Hannah Arendts Großnichte verfolgten Sie 1961 an ihrer Seite den Eichmann-Prozess. Heute, mehr als vierzig Jahren nach dem Tod ihrer Großtante, fragt eine Fernsehdokumentation nach der Aktualität ihres Denkens. Wo greifen die Gedanken Hannah Arendts in Ihrem Alltag besonders?

Dass Hannahs Sicht auf die Dinge auch noch so lange nach ihrem Tod wahrgenommen werden würde, konnte keiner ahnen. Oft haben meine Eltern, meine Schwester und ich uns gefragt, was Hannah zu diesem und jenem gesagt hätte. Wir wissen es ja nicht, aber es ist vor allem ihre Art zu fragen, die vielen in Erinnerung blieb. Im Falle der Ukraine, zum Beispiel: Inwieweit ist dort der Totalitarismus überwunden? Hat es dort überhaupt eine Befreiung aus den totalitären Strukturen und Gesinnung gegeben? Auch hinsichtlich dessen, wie Systeme funktionieren, hatte Hannah einen erhellenden Aspekt beigetragen, zum Beispiel durch ihre Einschätzung Adolf Eichmanns als „Hans Wurst“. In weiten Teilen der jüdischen Gemeinschaft hatte man allerdings ihren Prozess-Bericht damals – in unterschiedlicher Weise – kritisiert. Und auch ich hatte anfänglich Probleme, Hannahs Sichtweise hier in Gänze zu verstehen.

Das war Hannah Arendt immer das Wichtigste, das Verstehen. Wann setzte es bei Ihnen ein, im Blick auf den Eichmann-Bericht?

Als ich viel später in Essen die Leitung der Begegnungsstätte „Alte Synagoge“ übernahm, einer städtischen Einrichtung, begann ich zu verstehen, was es bedeutet, in eine Hierarchie eingebunden zu sein und Menschen zu begegnen, die primär darauf bedacht sind, die eigene Beförderung anzustreben, eine Unterordnung zu bevorzugen, anstatt über das eigene Tun nachzudenken. Eichmann hat ja wirklich niemanden getötet. Aber das beflissentliche Organisieren der Züge „in den Tod“ hat bei ihm kein Nachdenken hervorgerufen. Ansatzpunkte, um unsere Neugier zu befriedigen – „Was hätte Hannah hierzu gesagt?“ –, gibt und gab es zahlreiche. Aber sicher ist es immer primär unsere Phantasie, die uns sagt, was sie gedacht haben könnte. Da sich die Situation in der Welt gewaltig verändert hat, wird es zunehmend schwieriger, dieser Phantasie freien Lauf zu gewähren und zu rätseln, was Hannah zu den Ereignissen in Köln oder zum Wahlkampf in den Vereinigten Staaten oder zu Trump im Besonderen gesagt hätte.

Zu Donald Trump vermutlich nichts mehr. Wen würde sie wohl wählen?

Nein, da wäre wahrscheinlich auch ihr nicht mehr viel eingefallen. Dabei ist es in der Tat schwer zu sagen, wen Hannah wählen würde. Da sie immer die Demokraten gewählt hatte, bin ich ziemlich sicher, dass sie auch dieses Mal diese Partei wählen würde, auch wenn sie vermutlich weder von Clinton noch von Sanders besonders überzeugt wäre. Als ich sie einst fragte, wen sie wählen würde, bekam ich eine merkwürdige Antwort: „AbN“. Das sei doch keine Partei, fragte ich zurück, und Hannah lachte fröhlich: Anything but Nixon!

Und Köln? Man kann sich nur schwer vorstellen, dass man keinen Artikel von ihr dazu in den Tageszeitungen gefunden hätte.

Es stimmt, das hätte sie sehr bestürzt und wütend gemacht. Dabei war Hannah gewiss keine Feministin, zumindest nicht nach den heutigen Begriffen, aber sie war eine sehr bewusste Frau. Sie hätte vor allem das Versagen des Staates und seiner Ordnungskräfte kritisiert. Und auch über den weiteren Verlauf des Diskurses wäre sie wohl enttäuscht gewesen, denn für sie war gemeinsames Handeln immer wichtig.

Der Staat hätte in Hannah Arendts Augen in seiner Pflicht des gemeinsamen Handelns gefehlt? Aber welches Gefühl kommuniziert man einer mitunter ziemlich besorgten Bevölkerung?

Auf keinen Fall Mitleid! Das wäre Hannah sehr wichtig gewesen: Mitleid darf ihrer Meinung nach deshalb bei politischen Entscheidungen keine Rolle spielen, weil in der Politik eine rationale Grundlage für Entscheidungen unverzichtbar ist. Natürlich ist das kein Widerspruch zu Empathie, die durchaus zuweilen auch ein Hintergrund für eine rationale Entscheidung sein kann, aber realpolitische Probleme fordern realpolitische Lösungen. Mitleid im Sinne, wie Hannah es auch begriffen hat, ist Mitleiden. Exemplarisch für diese Unterscheidung ist Friedrich Nietzsches Leiden an jenem Gefühl des Mitleidens.

Als er in Turin einem Pferd, das geschlagen wurde, weinend um den Hals fiel…

… weil er am Leid des Pferdes Anteil hatte.

Im Bändchen „Ich will verstehen“ berichtet Hannah Arendt, wie sie ihren jüdischen Religionslehrer aus dem Konzept bringen wollte. Sie stand im Unterricht auf und sagte: „Ich glaube nicht an Gott.“ Der Lehrer antwortete gelassen: „Wer hat das von dir verlangt?“ Wie würde Ihre Großtante Ihrer Ansicht nach wohl über religiöse Konflikte heute denken?

Das hat mit ihrem Jüdisch-Sein zu tun, weil es im Judentum weder die Erwartung, noch einen Zwang „zum Glauben“ gibt. Das hat der Lehrer ihr wunderschön vermittelt. Zugleich gehörte zu diesem jüdischen Hintergrund, dass ihr Gerechtigkeit besonders wichtig war, insbesondere dann, wenn es um Rechtsstaatlichkeit ging. Es geht um eine Übereinkunft von Werten, an denen die Mitglieder des Gemeinwesens gemeinsam festhalten wollen.

Wie sieht in Ihren Augen die heutige Pflicht zum Ungehorsam aus, wenn man an Hannah Arendts berühmtes „Denken ohne Geländer“ denkt? Wo tut Ungehorsam Not?

Ungehorsam gegen wen? Gegen was? Ich weiß auch nicht, ob es so etwas wie eine „Pflicht“ zum Ungehorsam geben kann. Hannah hätte das fehlende Einhalten rechtsstaatlicher Grundsätze sowohl in der Bundesrepublik als auch in der EU beklagt. Was für Hannah grundsätzlich negativ konnotierte war, war Mitläufertum, aber Widerstand befürwortete sie nur dort, wo Recht überschritten oder missachtet wurde. Eigenständig denken und dafür einstehen, das war ihr Lebensmotto. Hannah hat immer gesagt, was sie dachte, und gedacht, was sie sagte.

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Edna Brocke wurde 1943 in Jerusalem geboren und lebt seit 1968 in Deutschland. Die Judaistin gehört zu den Herausgebern der Zeitschrift „Kirche und Israel“ und leitete bis 2011 die Begegnungsstätte „Alte Synagoge – Haus jüdischer Kultur“ in Essen.

Die Dokumentation Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam läuft heute, Mittwoch, um 21.55 Uhr auf Arte.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 09.03.2016

Kein Zickenfox – Der Film über das Frauenblasorchester feiert Premiere

Am 17.03. kommt „Kein Zickenfox“, der Dokumentarfilm über das Frauenblasorchester Berlin (FBOB), ins Kino. SIEGESSÄULE-Autorin Uta Zorn sprach mit den Filmemacherinnen Dagmar Jäger und Kerstin Polte
16.03. – „Kein Zickenfox“ ist ein Dokumentarfilm über das Frauenblasorchester Berlin (FBOB). Kamerafrau Dagmar Jäger stolperte quasi über das Orchester im Humboldthain bei der Fête de la Musique, und Regisseurin Kerstin Polte sagte sofort „ja, lass uns drehen“, als sie bei einer Probe zu Gast war. SIEGESSÄULE-Autorin Uta Zorn traf die Filmemacherinnen auf der Berlinale und sprach mit ihnen über die Dreharbeiten und den Kinostart am 17. März

Wie war euer „erstes Mal“ mit dem Orchester und was hat euch besonders angezogen?
Dagmar: Die Frauen. Ich habe diese Musik gehört und hab gesagt, da muss ich hin. Was ist das denn, das hört sich so schön an und so energievoll. Dann stand ich da in diesem traumhaften Licht, nur Frauen und die Musik dazu und dachte gleich, dazu muss man einen Film machen. Eine Flötistin im roten Kleid mit schwarzen Punkten, so ganz leicht und dann Steph, die Tubistin, mit ihrer Zimmermannshose – was für ein Potpourri!
Kerstin: Ich hatte nur davon gehört und da ich ja nun mal Frauen generell sehr anziehend im Leben finde und dann erst 66 (lacht) – das musste ich sehen. Ich habe dann in dieser Probe gestanden, es war ein Gewusel, ein unglaubliches Chaos und ich habe wirklich gedacht, wie soll man daraus einen Film machen? Es ist total geil, es berührt mich zutiefst, sofort, aber wo kann hier eine Struktur rein? Als Filmemacherin denkt man sofort, das muss auch alles einen Anfang und ein Ende haben, und eine Mitte – Struktur, Dramaturgie.

Hattet ihr ein Drehbuch?
Dagmar: Kerstin hat in der Regel Drehbücher, die man dann irgendwo in die Ecke schmeißt. Und dann kommt sie mit Zetteln an. Da steht bis auf den letzten Zipfel irgendwo was geschrieben, das ist dann ungefähr das Drehbuch. „Heute machen wir das“, und meistens habe ich dann gesagt: „Okay, dann stell ich die Kamera heute dahin.“ Mit anderen Worten, es gab kein Drehbuch. Aber die große Idee war schon da, wir wollten die Frauen erzählen lassen.

Wie habt ihr es geschafft, 160 Stunden nach über drei Jahren Dreh auf 70 Minuten zu schneiden?
Kerstin: Ich bin ja auch gelernte Cutterin, und genauso wie beim Drehen lass ich mich immer davon leiten, was berührt mich und was berührt mich nicht. Also erst mal gucken, was ist überhaupt stark, was ist da an Szenen, an Momenten. Klar, und danach muss man natürlich was aufschreiben, da entsteht das Drehbuch dann. Wir wollten immer einen Film machen, wo man nachher rausgeht und sagt, jetzt hätte ich noch gern 10 Minuten und jetzt muss ich den noch mal angucken, weil – da vorne das interessiert mich.

Ihr habt die Frauen mehrere Jahre begleitet, wir groß war euer Budget?
Dagmar: Wir hatten genau Nullkommanull – eigentlich hatten wir Schulden.

Ihr kommt in dem Film den Frauen unheimlich nah. Wie habt ihr das geschafft?
Kerstin: Ein paar Monate nach Drehbeginn sind wir mit auf Tournee gegangen. Ab da war es einfach so, dass wir gar nicht mehr von außen was getan haben, sondern immer ein Teil des Ganzen waren, wir mit den Frauen verschmolzen sind. Wir waren wie Notenständer. Die haben uns gar nicht mehr so richtig wahrgenommen, wir haben halt dazugehört.

Täusche ich mich, oder ist „Kein Zickenfox“ auch eine Hommage an Berlin?
Kerstin: Für mich ist manchmal noch zu wenig Berlin drin. Ehrlich gesagt, diese Frauen, so wie sie da sind, finde ich, gibt’s auch nur hier, und deswegen ist das auch die Stadt, in der ich lebe und in die ich immer wieder gezogen bin.
Dagmar: Ich weiß auch nicht, was du da in Zürich wolltest.
Kerstin: Ich auch nicht. Geld verdienen, hat aber auch nicht geklappt.
Dagmar: Wir lieben Berlin.
Kerstin: … und dieser Film spielt hier, und das ist integraler Herzbestandteil dieses Films.

Es hat einige Zeit  gedauert, bis der Film in die Kinos kommt, weil sich die Klärung der Musikrechte hingezogen hat. Wie geht es nach dem Kinostart weiter und klingelt es dann in der Kasse?
Kerstin: Die DVD kommt vier bis acht Wochen nach dem Kinostart. Der rbb zeigt den Film auch noch einmal im Sommer im TV, weil es ein Frühling/Sommerfilm ist. Der macht Spaß in der Zeit. Und wenn es im Kino gut läuft, glaube ich schon, dass der eine oder andere Sender ihn auch noch mal zeigt. Nein, wir kriegen nichts. Die Einnahmen gehen alle an den Verleiher, der hat auch unheimlich viele Kosten und die Kinobetreiber bekommen ja auch etwas. Kino-Dokumentarfilm ist ein absolutes Verlustgeschäft, auch für die Verleiher. Deswegen bin ich auch so froh, dass Darling Berlin und das Entscheider-Gremium einstimmig gesagt haben „diesen Film möchten wir“.

Kein Zickenfox – Beschwingt durchs Leben

Musikdokus handeln häufig von berühmten Interpreten oder außergewöhnlichen Begabungen. Kein Zickenfox erzählt von einfachen Musikerinnen nebenan. Ein Alleinstellungsmerkmal haben freilich auch sie: Sie spielen im einzigen Frauenblasorchester der Welt.

Einmal in der Woche ist der Probenraum in Berlin-Kreuzberg zum Bersten gefüllt. Den 66 Frauen zwischen Anfang 20 und Mitte 70 ist das einerlei. Was alle verbindet – egal ob Studentin, Polizistin, Diplombibliothekarin, Lebensmittelchemikerin oder Bauingenieurin –, ist die Liebe zur Musik. Und die überträgt sich schnell auf ihr Publikum.

Für ihren Dokumentarfilm Kein Zickenfox haben Kerstin Polte und Dagmar Jäger das Frauenblasorchester Berlin begleitet. Dirigentin Astrid Graf hat es 2003 ins Leben gerufen. Der Andrang war von Anfang an riesig. Die Kamera ist bei den Proben, bei Auftritten in der bayerischen Provinz und in der Berliner Philharmonie dabei. Vor grauem Hintergrund verraten die Musikerinnen Alter, Beruf und Instrument, geben eine kleine Kostprobe ihres Könnens und mit einem Augenzwinkern zu, dass die Diskussionen bei einem reinen Frauenorchester gern mal etwas länger dauern. Im Kern handelt Kein Zickenfox aber von Lebensentwürfen. Und so zeigen Polte und Jäger ein gutes Dutzend Frauen auch im Privaten, wie sie leben und arbeiten, wen sie lieben, was sie denken und fühlen; erzählen von späten Coming-outs, alternativen und ganz gewöhnlichen Werdegängen.

Was auffällt, ist die positive Energie, die vom gemeinsamen Musizieren in den Alltag und wieder zurück strömt. Da ist etwa Irmgard, die noch im Rentenalter mit dem Saxofonspielen begonnen hat, da ihr eigentliches Instrument, das Waldhorn, in ihren Ohren viel zu doof klingt. Ihrem Appell, seinen Zielen zu folgen, solange man noch könne, folgte auch Trompeterin Gisela jederzeit. Von einem Leben nach dem Tod oder von Wiedergeburt will die pensionierte Pfarrerin nichts wissen. Für sie ist jedes Leben so einzigartig, dass es sich einfach nicht lohne, seine Pläne für ein mögliches nächstes aufzuschieben. Und da ist die – mittlerweile verstorbene – Posaunistin Margrit, die nach ihrer Krebserkrankung die Energie des Orchesters vermisst, so schnell wie möglich zurückdrängt und sich selbst mit amputierten Fingern nicht vom Spielen abbringen lässt.

Mit einer knappen Laufzeit von gerade einmal 69 Minuten kratzt Kein Zickenfox freilich nur an der Oberfläche. Dennoch bietet der Film ein Kaleidoskop starker Frauen. Ein Ausflug nach Bayern führt dem Publikum amüsant vor Augen, warum ein emanzipiertes Leben manchmal eben doch besser in Berlin als in der Provinz glückt. Und wenn die Zuschauer in der Berliner Philharmonie zur orchestralen Interpretation von Miriam Makebas Pata Pata auf ihren Sitzen wippen, ist das Kinopublikum schon lange von der Musik, ihren Interpretinnen und von diesem kleinen Feelgood-Dokumentarfilm eingenommen.

(Falk Straub)

Alles außer Humtata

Bettina mag ihr Tenorsaxophon, „weil es nicht so ordentlich ist wie die anderen Instrumente“, und sie liebt ihre Frau Maria mit der Bass- klarinette. Sabine an der Trompete wiederum flirtet gern mit Bianca an der Querflöte, und die Piccoloflöten-Spielerin zieht es zur Frau an den Percussions. Auch Horn und Sopransaxophon harmonieren sehr gut, wird berichtet. Im einzigen Frauenblasorchester der Welt ist es egal, ob Lesbe oder heterosexuelle Frau, Lehrerin oder Polizistin: die Liebe zur Musik eint sie alle. Jede Woche treffen sich die 66 Laien- musikerinnen zwischen 19 und 74 Jahren, um gemeinsam zu musizieren.

Im September 2003 nahm alles seinen Anfang, als eine Schülerin von Astrid Graf die Idee hatte, ein Frauenorchester zu gründen. Also wurden Anzeigen geschaltet, um Musikerinnen zu finden, ein Probe- raum gesucht, und schon bald trafen sich die ersten 40 Frauen und starteten das Projekt. Ein halbes Jahr später wurde der Verein Frauen- blasorchester Berlin e.V. gegründet mit dem Zweck, Blasmusik zu pflegen, und Nachwuchs, das Zusammenspiel von Laienmusikerinnen sowie die Präsenz von Frauen in der Musik zu fördern. Im Verein sind inzwischen gut 100 Musikerinnen organisiert, der Mitgliedsbeitrag staffelt sich einkommensabhängig. Mittlerweile gibt es sogar ein zweites Orchester namens „Holz und Blech“, liebevoll auch als erstes Kammerblasorchester Berlins bezeichnet. Natürlich verändert sich die Besetzung des Orchesters immer mal wieder, neue Frauen werden aufgenommen, andere verabschiedet. „Zurzeit gibt es Vakanzen am Blech, also an Trompete, Posaune und Tuba, aber auch eine fort- geschrittene Frau am E-Bass würden wir gern in unseren Reihen begrüßen“, bemerkt Astrid Graf, Dirigentin und musikalische Leiterin des Frauenblasorchester Berlin (FBOB). Geprobt wird einmal wöchentlich und in zusätzlichen Registerproben für Blech und Flöte, also in separaten Stimmproben ohne die komplette Aufstellung. Das Laienorchester finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie den Einnahmen aus Konzerten und CD-Verkäufen.

Musik für Kopf und Herz

L-MAG war zu Gast bei einer Probe – ob sich wohl ein Frauenblas- orchester musikalisch von anderen Blasorchestern unterscheidet? Astrid beantwortet das so: „Wir spielen Filmmusik, Jazz, Latin, Klassik und sinfonische Blasmusik. Um traditionelle Blasmusik wie Märsche und Polkas, also Humtata, machen wir einen Bogen. Oft werden wir gefragt, ob wir als reines Frauenorchester anders klingen als gemischte Orchester. Ich lasse dann unser Publikum für uns sprechen. Und sie finden, unser Klang sei feiner und nuancierter. Unsere Musik spricht Kopf und Herz an!“ Astrid ist diplomierte Klarinettistin, hat bereits in Köln erste Erfahrungen als Dirigentin gesammelt und treibt ihr Berliner Orchester seit dem ersten Tag zu Höchstleistungen. Sie arrangiert Stücke passend für jede Einzelne und kümmert sich um jedes Detail bei Proben und Auftritten. Sie greift aber auch schon mal hart durch, wenn es bei der Probe mal wieder zu laut wird oder jemand an der Stulle knabbert. Ist der Vor- hang geöffnet, steht Astrid im kurzen Jäckchen oder im langen Frack auf dem Podest und taucht in ihr Orchester ein.

„Um traditionelle Blasmusik wie Märsche und Polkas machen wir einen Bogen“

Sie dirigiert, hüpft die Einsätze. Die Orchesterfrauen, bis in die Haar- spitzen konzentriert, werden zu einem klanggewaltigen Ganzen. Jedes Jahr treten sie ungefähr viermal auf und spielen ein Benefiz- konzert. Bereits zweimal waren sie in der Berliner Philharmonie zu bestaunen, und zum 10-jährigen Jubiläum wurde die erste Auftrags- komposition präsentiert, ermöglicht durch Crowdfunding. Die Berliner Komponistin Susanne Stelzenbach schrieb für das Orchester das Stück „Luftspiel“, das 2015 im Sendesaal des Rundfunks Berlin Branden- burg (RBB) uraufgeführt wurde. Das Orchester und seine Dirigentin haben sich in den Jahren weiterentwickelt: „Ich bin mit dem Orchester gewachsen, menschlich und musikalisch. Ich denke, man muss immer Ideen und Träume haben, wo es hingeht und dann nicht aufhören. Und dieses Orchester ist mein Herzblut.“

Vom Konzertsaal auf die Kinoleinwand

Dem besonderen Sound, den diese Frauen ihren Instrumenten ent- locken, konnte sich auch die Kamerafrau Dagmar Jäger nicht ent- ziehen, als sie zufällig vor einigen Jahren dem FBOB begegnete. Angezogen von stimmungsvollem Jazz und der schwungvollen Energie, begleitete sie mit ihrer Filmpartnerin und Regisseurin Kerstin Polte das Orchester über zwei Jahre. Es entstand ein filmisches Orchesterporträt der besonderen Art. Ab 17. März ist dieser nun in mehreren deutschen Städten auch auf der Kinoleinwand zu sehen. Der Film „Kein Zickenfox“, produziert von Claus Wischmann („Kinshasa Symphonie“), ist bereits auf mehreren Festivals gelaufen und hat einige Auszeichnungen erhalten: bei den „Lesbisch Schwulen Filmtagen“ in Hamburg sowie beim internationalen Filmfestival „Pink Apple“ in Zürich den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm. Und auch in Bremen, Hannover und Freiburg war das Publikum begeistert und belohnte das mit einem Preis.

Treffen sich die Töne von Horn, Trompete, Posaune und Tuba, ist es gewöhnliche Blasmusik. Arrangiert man Saxophone, Flöten, Klarinetten und Schlagzeug dazu und gibt all das 66 Frauen in die Hand, ist das nicht nur das einzige Frauenblasorchester weltweit, sondern ein Klang der ganz besonderen Art.

„Kein Zickenfox“, Dokumentarfilm, Regie: Dagmar Jäger, Kerstin Polte, Kinostart: 17. 3. Previews: 22.2. Cinema Münster, 2.3. Monopol München, 8. 3. Moviemento Berlin, 16. 3. Kinopremiere mit anschließendem Konzert Urania Berlin.

Königin der Nacht putzt Toiletten – „Überlebenskünstler“

Die Arte-Dokumentation „Überlebenskünstler“ erzählt von Musikern, die sich in einem Zweitjob verdingen, um über die Runden zu kommen.

Sie leben zwei Leben. Den Job brauchen sie fürs Geld, die Musik für ihr Seelenheil. Abends geben sie Konzerte, tags räumen sie den Dreck anderer Leute weg. Der sehenswerte Dokfilm „Überlebenskünstler“ stellt leidenschaftliche Musiker vor, die in Würde ihrer Zweitarbeit nachgehen.

Roman Krasnovsky spielt auf Orgeln in London, Paris oder New York. In seiner Heimat Israel sind Organisten nicht gefragt. In den Synagogen gibt es keine Orgeln. Roman arbeitet als Müllmann, steht früh um vier auf. „Ich habe dauernd Schmerzen in den Händen“, sagt er. „Während der Arbeit denke ich an Musik, nicht an den Müll.“ Er tritt bei Hauskonzerten und in Kirchen auf und kann sich nichts Schöneres denken.

Melina Paschalidou studierte in Griechenland Gesang, lebt seit zwei Jahren in Berlin, nimmt privaten Unterricht und möchte Opernsängerin werden. Für diesen Traum arbeitet sie vierzig Stunden in der Woche als Hausmädchen, putzt Wohnungen, säubert Toiletten. „Diese Arbeit ist wirklich nicht die beste, aber so ist das Leben.“ Bei einer Agentur bewirbt sie sich mit der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“. Die Sopranistin setzt sich eine Frist; wenn sich bis dahin ihr Traum nicht erfüllt, kehrt sie zu Mann und Familie nach Griechenland zurück.

Andrej Kulischko ist Oboist der Staatlichen Philharmonie in Kiew. Von der Gage können er und seine Familie nicht leben. Er betreibt nebenher eine Autowerkstatt, arbeitet täglich bis zu 16 Stunden. „Durch den Krieg in der Ostukraine ist alles teurer geworden“, sagt er. Aber ins Ausland geht er nicht. Die Musik schenkt ihm Zuversicht und Kraft. „Das Leben meiner Kinder will ich in einem wolkenlosen Himmel sehen, ohne Krieg.“

Ein Pendeln zwischen OP und Konzertsaal führt der Bonner Arzt Ulrich Kolk. Regelmäßig tritt er mit dem Kontrabass in Amateur- und Berufsorchestern auf. Der Herzspezialist kann von seinem Gehalt leben, doch ohne das Spiel auf dem Instrument kann er sich das Dasein nicht vorstellen: „Musik räumt die Seele auf.“

szonline.de, 20.02.2016

Wittener Wischmann zeigt Film „Lebenskünstler“

„Lebenskünstler“, der neue Fim des Witteners Claus Wischmann, läuft am 21. 2. auf Arte. Er zeigt Musiker, die nebenbei von Zweitjobs leben müssen.

Krasser könnten die Gegensätze kaum sein: Die virtuosen Töne einer Orgel am Abend und das fiese Knirschen einer Müllpresse am Morgen. Die liebliche Stimme einer Opernsängerin und das Rauschen einer Wasserspülung an der frisch geputzten Toilette. Oder die tief-zarten Klänge einer Oboe auf der Bühne und das Kreischen eines Schleifeisens in der Werkstatt.

Der aus Witten stammende Regisseur Claus Wischmann hat sich mit Menschen beschäftigt, deren Leben von solchen Gegensätzen geprägt ist. Am morgigen Sonntag (21. 2.) läuft um 23.45 Uhr „Überlebenskünstler“ auf Arte.

„In dieser Geschichte geht es um professionelle klassische Musiker, die mit großer Leidenschaft und Können ihrer Kunst nachgehen und die dennoch nebenher arbeiten müssen“, beschreibt Wischmann seinen Film. Gemeinsam mit einem Co-Autor begleitete der 49-Jährige Wahlberliner Musiker, die abends umjubelt auf der Bühne stehen und tagsüber als Hausdame Hotelzimmer putzen, als Automechaniker schrauben und als Müllmann Tonnen leeren. „Meine Befürchtung vorab war, dass der Film ziemlich traurig werden könnte“, verrät Wischmann. „Aber letztendlich hat er doch eine sehr positive Stimmung bekommen. Die Künstler sind eigentlich recht zufrieden und im Reinen mit der Lösung, die sie gefunden haben.“

Regisseur Wischmann lebt heute in Berlin und hat über 40 Filme gedreht

Bis zu seinem 19. Lebensjahr lebte Claus Wischmann in Herbede. An der Hardenstein-Schule hat er sein Abitur gemacht. Nach verschiedenen Zwischenstationen entschied er sich Ende der 90er Jahre für die Hauptstadt. Dort gründete der Wittener 2007 mit einigen Partner die Produktionsfirmen „Sounding Images“ und „Fernsehbüro“. Inzwischen kann Wischmann als Autor und Regisseur auf über 40 Dokumentationen, Reportagen, Konzertaufzeichnungen und Porträts zurückblicken, die vor allem auf Arte, im ZDF aber auch im Kino liefen.

Auch Claus Wischmann selbst hat eine besondere Beziehung zur Musik und kann sich daher in die Akteure einfühlen: Bevor er den Weg als Medienschaffender einschlug, arbeitete er einige Jahre als Profi-Pianist. „Ich weiß, was das bedeutet“, sagt er. „Üben, üben, üben. Jeden Tag viele Stunden. Da hätte ich gar keinen anderen Job machen können.“ Irgendwann brach er mit dem praktizierenden Musikertum. So wie viele in Deutschland lebende Berufsmusiker: „In Deutschland macht man es voll und ganz – und wenn es finanziell nicht mehr geht, hört man ganz damit auf“, sagt er. Doppelgleisigkeit sei eher heikel für die Karriere.

Claus Wischmann ist noch oft in Witten, weil hier seine besten Freunde leben

Deswegen sei es sehr schwierig gewesen, hier Musiker zu dem Thema zu finden. Also spielt der Film jetzt in der Ukraine, in Israel aber auch in Deutschland. Er begleitet zum Beispiel die Sopranistin Melina Paschalidou, die nach ihrer Gesangsausbildung in Griechenland nach Berlin kam, um an ihrer Karriere zu feilen. Bis sich ihr Traum von einem festen Engagement erfüllt, muss sie ihrem Konto Geld, das sie als Zimmermädchen verdient, zufüttern.

Auch wenn Claus Wischmann für seine Filme in der Welt zu Hause ist, kehrt er regelmäßig nach Witten zurück. „Ich bin gerne da, meine besten Freunde leben nach wie vor an der Ruhr“, sagt er. „Das ist einfach Heimat und die Menschen sind mir vertraut.“

WAZ.de, 19.02.2016

Leute, benehmt euch wie die Deutschen! – „#My Escape – Meine Flucht“ im WDR

Das Drastische sind nicht einmal die Aufnahmen von den Bombeneinschlägen, die Feuerwalzen und Rauchsäulen, an so etwas hat man sich ja durch die Fernsehnachrichten schon fast gewöhnt.

Das Drastische sind die Aufnahmen aus dem Alltag im Vorkriegs-Damaskus: Geburtstagsfeiern mit Torte und Kerzen, junge Männer mit Pferdeschwänzen und E-Gitarren auf der Bühne eines Hardrock-Konzerts, Menschen, deren Leben sich kaum von dem in Mitteleuropa unterschied, und die der Krieg nun nach Mitteleuropa vertreibt.

Ende Dezember ging es los, sechs Wochen später war der Film fertig

Die Aufnahmen sind Teil einer 90-minütigen Dokumentation mit Geschichten von Flüchtlingen, die es nach Deutschland geschafft haben, produziert vom WDR in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle und der Firma Berlin Producers.

Bitte nicht schon wieder Flüchtlingsschicksale, mag man zunächst denken, sind die Medien doch seit Monaten randvoll mit ähnlichen Geschichten. Aber diese sind anders, sie basieren auf Fotos und Handy-Videos, die Syrer, Afghanen und Eritreer mitgebracht haben: verwackelte Filme, unscharfe Bilder, schwarze Nachtaufnahmen, die nur akustisch zu deuten sind.

#My Escape – Meine Flucht liegt eine, buchstäblich, naheliegende Idee zugrunde. „Wir sind in Flüchtlingsheime gegangen und haben die Menschen dort gefragt, ob sie Videomaterial zu ihrer Flucht haben“, erzählt WDR-Redakteurin Jutta Krug. „Die Flüchtlinge waren sofort dabei und zeigten uns ihre Handyfilme.“

Material hätten sie mehr als genug gehabt, „das Problem war eher, eine Dramaturgie hinzukriegen“. Es sollte kein Sammelsurium herauskommen, also beschränkte man sich auf wenige Schicksale, aber mit „großem erzählerischen Bogen“. Schnell sollte es gehen, denn „wer weiß, wie lange solche Aufnahmen aufgehoben werden“. Ende Dezember ging’s los, nun, sechs Wochen später, ist die Doku bereits fertig, „mit heißer Nadel gestrickt“, so Krug, aber vielleicht genau deshalb sehenswert.

Humor trotz harten Fluchtalltags

Es sind Aufnahmen, die den Fluchtalltag in all seiner schlichten, harten Realität zeigen, die, weil sie nichts dramatisieren, umso mehr wirken. Heimlich gefilmte Schleuser in Izmir, die seelenruhig und mit kaufmännischer Akribie einen Dollarstapel nach dem anderen durch ihre Zählmaschinen jagen. Geld, das die Familien der Flüchtlinge über Monate, manchmal über Jahre zusammengekratzt haben.

Aufnahmen aus Transportern mit eingepferchten Menschen, die sich an den Deckenverschalungen festkrallen, Szenen aus überfüllten Schlauchbooten. Man muss diese Menschen bewundern: für ihren Mut, auch unter Lebensgefahr zu filmen, aber auch dafür, selbst in prekären Situationen ihren Humor zu bewahren: „Schaut mal, selbst die Kuh ist gekommen, um uns zu begrüßen“, ruft einer in sein Handy, als er eine Weide in Mazedonien passiert. Und ein anderer meint nach der Ankunft in Passau: „Leute, lauft nicht auf der Hauptstraße! Benehmt euch wie die Deutschen!“

Es gibt ähnliche Ideen für andere Perspektiven, Refugee TV etwa, ein Webprojekt, das drei Salzburger Filmemacher 2015 starteten: Flüchtlinge erkunden mit der Kamera den deutschen und österreichischen Alltag, gehen auf Weihnachtsmärkte, befragen Passanten. So etwas verändert Sichtweisen. „Wir wussten nicht, wohin der Zug fährt“, erzählt ein junger Syrer in #My Escape. „Dann sagte jemand: Willkommen in Österreich. Auf Arabisch! Das war der schönste Moment auf der ganzen Reise. Nirgendwo zuvor hatte jemand Willkommen gesagt.“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 05.02.2016

#MyEscape: Handyvideos von Flüchtlingen werden zum Film

Wie erleben Flüchtlinge den gefährlichen Weg nach Europa? Was widerfährt ihnen auf dem Meer, in der Wüste oder auf der Straße? Der Film „#MyEscape“ zeigt genau das – anhand von Handyvideos.

Die ersten Schritte des Kindes oder eine spielende Katze – Handyvideos machen wir von vielen Dingen. Anhand solcher Clips ist nun ein Dokumentarfilm entstanden. Der Inhalt ist allerdings deutlich brisanter: „#MyEscape“ erzählt die Geschichte von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa. Aufgenommen mit ihren Handys. Der WDR zeigt den Film am Mittwoch (10.2.) um 22.55 Uhr.

„Für die meisten von ihnen ist das Mobiltelefon ein unverzichtbares Mittel zur Organisation ihrer Flucht“, erklären die Produzenten Deutsche Welle, WDR und Berlin Producers. „Gleichzeitig transportieren sie damit Erinnerungen an das Zurückgelassene und dokumentieren Fluchtstationen.“ Die Aufnahmen bleiben nicht unkommentiert – die Flüchtlinge äußern sich dazu auch in Interviews.
„Ich wollte einen Teil dieses Leids filmen“

Einer von ihnen ist Hambar Al Issa. Der syrische Mediziner flüchtete von Damaskus bis nach Berlin. Seine Ankunft in Deutschland hielt er mit Selfies fest – etwa vorm Reichstag oder dem Brandenburger Tor.

Aber was bewegte ihn, das Mobiltelefon während der beschwerlichen und riskanten Flucht zu zücken? „Ich wollte einen Teil dieses Leids filmen“, erzählt der junge Mann, der am 24. September in Berlin ankam. „Vielleicht hilft es ja, eine Botschaft an die Menschen in Deutschland zu senden, dass wir auch Menschen sind.“

Das Material zu dem 90 Minuten langen Film sammelten die Produzenten in sozialen Medien wie Youtube. Nach eigenen Angaben gingen sie aber auch direkt in Flüchtlingsunterkünfte, um nach Material zu fragen. „Wir wollen ein Verständnis vermitteln und eine Empathie erzeugen für das, was die Menschen auf der Flucht erlebt haben“, erklärt Jutta Krug, die beim WDR für Dokumentarfilme zuständig ist. „Eine größere Nähe und Authentizität ist, glaube ich, nicht zu erreichen.“

Filme auf Basis von Handyvideos sind kein Neuland mehr. Ein Beispiel ist der Kinofilm „Life in a Day“, der mithilfe von Youtube-Clips dokumentiert, was weltweit an einem einzigen Tag passierte. In dem Fall ist das der 24. Juli 2010. Aktueller ist „Alaaf You“, der den Karneval in Köln mit solchen Videos zeigt.
Aufnahmen aus dem Inneren eines Benzintanks

Bei „#MyEscape“ fühlt sich der Zuschauer aufgrund der Perspektive tatsächlich so, als sei er selbst dabei. Sogar die letzte Falafel in der Heimat und die Verhandlungen mit Schleusern sind dokumentiert. Während der gefährlichen Überfahrt in einem völlig überfüllten Schlauchboot spritzt Wasser umher. Oder die Kamera wackelt bei einer rasend schnellen Fahrt durch die Wüste. Bewegend sind auch die Aufnahmen aus dem Inneren eines Benzintanks in einem Bus, in dem ein Mann mit seinem Neffen flüchtete.

Viele hätten die Aufnahmen für die Daheimgebliebenen gemacht, um ihnen von der Flucht zu berichten, erzählt Regisseurin Elke Sasse. Der Großteil habe aber das Ziel gehabt, die Bilder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen – und Aufklärung zu leisten.
Mehr als 70.000 Flüchtlinge erreichten Berlin

Allein im vergangenen Jahr kam rund eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Mehr als 70.000 erreichten Berlin. Doch nicht alle Menschen, die den gefährlichen Weg auf sich nehmen, kommen ans Ziel. „Die Flucht ist um einiges schwieriger geworden“, betont Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor der Organisation Human Rights Watch. Der Januar sei bisher der Tödlichste für Flüchtlinge in der Passage in der Ägäis gewesen, die auch im Film zu sehen ist.

Hambar Al Issa kam über die Balkanroute aus Syrien nach Deutschland. Seinen Beruf als Arzt darf er hier zwar nicht ausüben. Er möchte sich hier aber weiterqualifizieren, wie er erzählt. Ein Ehepaar hat ihn bei sich aufgenommen. Grund genug für eine Fortsetzung? Das wäre durchaus denkbar, sagt Jutta Krug vom WDR. Vielleicht unter dem Titel „#MyGermany“.

BERLINER ZEITUNG, 04.02.2016