Sternstunden der Musik | Der Jahrhundertring 1976

Ein Film von Eric Schulz, ZDF/arte und C Major Entertainment, 43 min., 2021

Die künstlerischen und gesellschaftlichen Wellen schlugen hoch, noch bevor sich der erste Vorhang hob. Flugblätter wurden verteilt und Unterschriften gegen die Inszenierung gesammelt, Musiker verließen den Orchestergraben, weil sie mit der avancierten Interpretation durch den Dirigenten Pierre Boulez nicht einverstanden waren. Die konservative Presse wehrte sich gegen die politisch-kapitalismuskritische Deutung von Richard Wagners Hauptwerk „Der Ring des Nibelungen“. Nach der Absage von Ingmar Bergmann wurde der erst 31jährige Fernseh- und Filmregisseur Patrice Chéreau verpflichtet. Er hatte bislang lediglich eine Oper von Rossini und Offenbach inszeniert. Als Konzept für den mehrteiligen und vielstündigen „Ring“ hatte er bei Wolfgang Wagner eine Schreibmaschinenseite eingereicht. Es blieben ihm vier Monate Zeit, das gewaltige Bühnenwerk zu erarbeiten.

1976: Das hundertjährige Bestehen der Bayreuther Festspiele sollte mit einer Neueinstudierung von Richard Wagners „Ring“ groß gefeiert werden. Im Foyer des Festspielhauses wollte man eigentlich die Jubiläumsstimmung verbreiten, aber da spuckte Bayreuths Stammkundschaft Gift und Galle gegen die „entartete Kunst“: „Ein Kasperltheater“, „brutale Vergewaltigung“ und „der Wagner, der Richard, dreht sich im Grabe um“ konnte man hören. Bürgerinitiativen aus Mannheim und Heidelberg mit dem Slogan „Werkschutz für Wotan“ gründeten sich und man suchte die Aufführung durch Buhrufe zu stören. Vereinzelt kam es zu Rangeleien und Schlägereien.

Patrice Chéreau hat sich in seiner Inszenierung konsequent an den sozial-politischen Kunstschriften von Richard Wagner orientiert, die der Komponist im Kontext seiner Arbeit am „Ring“ geschrieben hatte. Es war keine vordergründige linke Ideologie, sondern es war Wagners Versuch, einer Epoche ihr mythologisches Fundament zu geben und die Gesinnung der Zeit einzufangen. Der „Ring“ wird so zu einer Allegorie auf das industrielle Zeitalter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit all seinen politischen Implikationen. Patrice Chéreaus Ansatz war es, den „Ring des Nibelungen“ als „eine Beschreibung der schrecklichen Perversionen der Gesellschaft, die sich in dieser Erhaltung der Macht begründet“ zu verstehen und ihn in seinen „Mechanismen eines starken Staates und der Opposition“ zu entlarven. Diese Art der Interpretation gefiel vor allem den Altwagnerianern und rechtskonservativen Kreisen überhaupt nicht. Trotz aller Anfeindungen, Festspielleiter Wolfgang Wagner und das Regieteam hielten an ihrem Konzept fest und überließen die Bühne der Kunst.

Der „Jahrhundertring“ erfüllte das Diktum Richard Wagners, dass mit dem „Ring“ ein musikalisches Gesamtkunstwerk zu schaffen sei. Mit der Inszenierung, dem Bühnenbild und Lichtdesign, den Kostümen, der musikalischen Interpretation und nicht zuletzt der sängerischen Qualität der zahlreichen Solisten und des Chores wurde ein Mythos geboren. Das deutsch-französische Projekt endete mit einem der größten musikalischen Triumphe; die Inszenierung wurde als Jahrhundertereignis gefeiert.

Der Film zeigt Ausschnitte von diesem im wahrsten Sinne monumentalen Opernereignis. Zeitzeugen blicken zurück und kommentieren das Geschehen auf und jenseits der Bühne. Die Sopranistin Dame Gwyneth Jones, die Altistin Hanna Schwarz und der Tenor Heinz Zednik standen damals mit auf der Bühne. Der französische Regisseur Vincent Huguet erzählt von seiner Zusammenarbeit mit Patrice Chéreau, dessen Assistent er in späteren Jahren war; die junge Sängerin Anna Prohaska, der Wagner-Sänger Günther Groissböck und Regisseur Barrie Kosky haben sich mit dem „Jahrhundertring“ auseinandergesetzt und sprechen über ihre Eindrücke. Und Friedrich Dieckman hat als Berichterstatter eine der wichtigsten Rezensionen über die die Vorgänge in Bayreuth geschrieben.