„Wir müssen uns wieder mit Hannah Arendt beschäftigen“ – wie oft habe ich diesen Satz seit dem 09. November 2016 schon gesagt? Oft genug. Das Problem ist: Hannah Arendt zu lesen ist eine Mammutaufgabe. Zwar empfehle ich immer die Biografie von Alois Prinz als Einstieg, aber geht es an ihr Werk, scheue ich oft, anderen die Lektüre zu empfehlen. Denn sie ist mühsam. Arendts Gedanken sind irre komplex und sich da hindurch zu kämpfen ist bestimmt nicht jederfraus Sache. Sie hat jeden Satz mit Bedeutung aufgeladen und sie schafft es oft nicht, herunterzubrechen.
Umso erfreulicher, wenn im Öffentlich-Rechtlichen Dokus gezeigt werden, die genau das Thema aufgreifen, das mir am Herzen liegt: das Heute mit ihrem Leben und ihrem Denken zusammenzubringen! Auf arte läuft noch bis 2. Mai 2017 die Doku „Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam“ – und für eure französischen Freunde auch in ihrer Sprache: „Hannah Arendt – Du devoir de la désobéissance civile“! Was gut ist, denn auch Frankreich wählt dieses Jahr und Marine Le Pen könnte als Siegerin daraus hervorgehen.
„Hannah Arendt ging es vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Massenbewegung und dem totalitären Bewusstsein stets darum, den Menschen vor seiner Degradierung zum Konsumenten, „Automaten“ und reinen Bürokraten zu bewahren. Denn diese sind willenlose Wesen, die „leer“ sind und mit denen Ideologen alles machen können. Hannah Arendts politisches Denken blieb stets der Aktualität verbunden. Und so schlägt der Film immer wieder Brücken zu gegenwärtigen Entwicklungen und Brennpunkten.“
Was braucht eine gute Revolution, um Demokratie zu ermöglichen? Wie beginnt Totalitarismus? Was kennzeichnet Menschen in düsteren Zeiten? Wie geht das tätige, das politische Leben? Was ist Ungehorsam und warum ist es wichtig zu urteilen? Wir müssen uns mehr mit Hannah Arendt beschäftigen – hier wäre ein Anfang!
piqd, Katrin Rönicke, 20.02.2017
Vorneweg: Wer in diesem Portrait sensationelle Enthüllungen über den Ex-Außenminister und Bald-Bundespräsidenten erwartet, der wird enttäuscht: Steinmeier ist einfach kein Mann der Überraschung. Tatsächlich könnte man argumentieren, dass seine ganze politische Laufbahn darauf beruht.
Entsprechend werfen alle politischen Weggefährten, Journalisten und sogar Psychologen die altbekannten Steinmeier-Klischees in die Runde: Die „Unaufdringlichkeit bis hin zum Verblassen“ wird da hervorgehoben, sein „Beamtentum“, und dass er sich „nicht in den Vordergrund drängt, sondern an Ergebnissen arbeitet“. Bei diesem Ringen um die freundlichsten Umschreibungen für „unauffällig“ schießt Innenminister Thomas de Maizière schließlich den Vogel ab und attestiert Steinmeier „Abgeklärtheit, Ruhe, Professionalität, Sachkenntnis und … Abgeklärtheit“. Irgendwann fallen selbst den Profi-Rednern keine Synonyme mehr ein.
Nachdem die erfahrenen TV-Reporter Thomas Bittner, Jessica Krauß und Stefan Pannen dem öffentlichen Bild von „Deutschlands beliebtestem Politiker“ (die Reportage wurde offenbar vor dem Schulz-Hype zusammengestellt) so gar nichts Neues hinzuzufügen haben, konzentrieren sie sich 45 Minuten lang lieber auf eine interessantere Frage: Sind das Eigenschaften, die ein Politiker heute haben kann? Oder vielleicht: sollte? Oder sogar: muss?
Die Antwort lautet: ja und nein. Und an jeder Stufe von Steinmeiers Karriere kommt eine neue Antwort dazu. „Ich gehöre ja zu denjenigen, die sich tatsächlich für Inhalte interessieren“, sagt er vorsichtig, und fügt beinahe entschuldigend an: „Ich hab daran nichts Nachteiliges gesehen.“ (Wie weit ist es nur gekommen, dass dies eine erstaunliche Aussage für einen Politiker ist?) Tatsächlich war er als Büroleiter und später Kanzleramtsminister hinter Schröder perfekt besetzt: Der kluge, bedächtige Sacharbeiter hinter der schillernden, aber instabilen Rampensau. Als zweite Geige hinter der selbst pragmatischen Angela Merkel dagegen musste er wie eine unnötige Sicherheitskopie wirken.
Das ist vielleicht die Ironie seiner politischen Karriere: Er war für die große Koalition wie geboren. In turbulenten Zeiten war er der richtige Mann zur richtigen Zeit mit der richtigen Sachlichkeit – doch eine Frau mit den gleichen Eigenschaften hatte die Schaltzentrale bereits besetzt. Unter dem Vizekanzler Steinmeier hätte Angela Merkel tot umfallen können, die Pragmatik der politischen Mitte wäre unverändert weiter an der Macht geblieben. Kein Wunder, dass die SPD unter ihm stetig an Profil verlor. „Es gibt Leute, die wären gute Kanzler, kommen aber nie dahin, weil sie keine gute Kanzlerkandidaten sind“, fasst der Journalist Jens König trocken das Dilemma zusammen.
Behutsamkeit wirkt plötzlich wieder reizvoll
Andererseits wirkt Steinmeiers Behutsamkeit in diesen Tagen plötzlich wieder reizvoll. Denn genau der mangelnde Wille zur Polarisierung, der ihn als Kanzlerkandidat so farblos machte, verschafft ihm nun das höchste Amt im Staat: Zur notwendigen Überparteilichkeit eines Bundespräsidenten ist es bei ihm nicht mehr weit, das hat letztlich auch der Koalitionspartner eingesehen. Steinmeiers außen- und innenpolitische Bilanz fällt zwar insgesamt ambivalent aus. Aber in Zeiten, da fachfremde Dampfplauderer und Populisten ohne Selbstdisziplin auf dem Vormarsch scheinen, wirkt ein bedachter, kluger „Superbeamte“ wie Balsam für die Volksseele.
Nicht zu Unrecht bezeichnet ihn ein Kommentator als den Anti-Trump: Sein kontroversestes Hobby ist das Kochen und die sensationellste Neuigkeit aus seinem Privatleben war eine selbstlose Nierenspende an seine schwer kranke Ehefrau.
Ganz ehrlich: Sehnen wir uns angesichts der globalen Schaumschläger und Geiferer nicht nach solchen Leuten? Umso absurder erscheinen die abschließenden Stimmen der Reportage, die Steinmeier ein neues Temperament für die neue Rolle ans Herz legen. „Ein Mann des Ausgleichs, der Ruhe, das darf er nicht mehr sein“, wird da gefordert.
Vor allem der politische Rand in Gestalt von Frauke Petry und Sahra Wagenknecht will, dass sich Steinmeier ebenfalls mehr an den politischen Rand begibt und mehr als Mahner und Donnerer auftritt als seine Vorgänger. Eine solche Veränderung scheint glücklicherweise unwahrscheinlich. „Was können die Deutschen erwarten?“, fragt die Reportage abschließend. Die Antwort ist eindeutig: Abgeklärtheit, Ruhe, Professionalität, Sachkenntnis und … Abgeklärtheit.
FRANKFURTER RUNDSCHAU, 07.02.2017