Das Drastische sind nicht einmal die Aufnahmen von den Bombeneinschlägen, die Feuerwalzen und Rauchsäulen, an so etwas hat man sich ja durch die Fernsehnachrichten schon fast gewöhnt.

Das Drastische sind die Aufnahmen aus dem Alltag im Vorkriegs-Damaskus: Geburtstagsfeiern mit Torte und Kerzen, junge Männer mit Pferdeschwänzen und E-Gitarren auf der Bühne eines Hardrock-Konzerts, Menschen, deren Leben sich kaum von dem in Mitteleuropa unterschied, und die der Krieg nun nach Mitteleuropa vertreibt.

Ende Dezember ging es los, sechs Wochen später war der Film fertig

Die Aufnahmen sind Teil einer 90-minütigen Dokumentation mit Geschichten von Flüchtlingen, die es nach Deutschland geschafft haben, produziert vom WDR in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle und der Firma Berlin Producers.

Bitte nicht schon wieder Flüchtlingsschicksale, mag man zunächst denken, sind die Medien doch seit Monaten randvoll mit ähnlichen Geschichten. Aber diese sind anders, sie basieren auf Fotos und Handy-Videos, die Syrer, Afghanen und Eritreer mitgebracht haben: verwackelte Filme, unscharfe Bilder, schwarze Nachtaufnahmen, die nur akustisch zu deuten sind.

#My Escape – Meine Flucht liegt eine, buchstäblich, naheliegende Idee zugrunde. „Wir sind in Flüchtlingsheime gegangen und haben die Menschen dort gefragt, ob sie Videomaterial zu ihrer Flucht haben“, erzählt WDR-Redakteurin Jutta Krug. „Die Flüchtlinge waren sofort dabei und zeigten uns ihre Handyfilme.“

Material hätten sie mehr als genug gehabt, „das Problem war eher, eine Dramaturgie hinzukriegen“. Es sollte kein Sammelsurium herauskommen, also beschränkte man sich auf wenige Schicksale, aber mit „großem erzählerischen Bogen“. Schnell sollte es gehen, denn „wer weiß, wie lange solche Aufnahmen aufgehoben werden“. Ende Dezember ging’s los, nun, sechs Wochen später, ist die Doku bereits fertig, „mit heißer Nadel gestrickt“, so Krug, aber vielleicht genau deshalb sehenswert.

Humor trotz harten Fluchtalltags

Es sind Aufnahmen, die den Fluchtalltag in all seiner schlichten, harten Realität zeigen, die, weil sie nichts dramatisieren, umso mehr wirken. Heimlich gefilmte Schleuser in Izmir, die seelenruhig und mit kaufmännischer Akribie einen Dollarstapel nach dem anderen durch ihre Zählmaschinen jagen. Geld, das die Familien der Flüchtlinge über Monate, manchmal über Jahre zusammengekratzt haben.

Aufnahmen aus Transportern mit eingepferchten Menschen, die sich an den Deckenverschalungen festkrallen, Szenen aus überfüllten Schlauchbooten. Man muss diese Menschen bewundern: für ihren Mut, auch unter Lebensgefahr zu filmen, aber auch dafür, selbst in prekären Situationen ihren Humor zu bewahren: „Schaut mal, selbst die Kuh ist gekommen, um uns zu begrüßen“, ruft einer in sein Handy, als er eine Weide in Mazedonien passiert. Und ein anderer meint nach der Ankunft in Passau: „Leute, lauft nicht auf der Hauptstraße! Benehmt euch wie die Deutschen!“

Es gibt ähnliche Ideen für andere Perspektiven, Refugee TV etwa, ein Webprojekt, das drei Salzburger Filmemacher 2015 starteten: Flüchtlinge erkunden mit der Kamera den deutschen und österreichischen Alltag, gehen auf Weihnachtsmärkte, befragen Passanten. So etwas verändert Sichtweisen. „Wir wussten nicht, wohin der Zug fährt“, erzählt ein junger Syrer in #My Escape. „Dann sagte jemand: Willkommen in Österreich. Auf Arabisch! Das war der schönste Moment auf der ganzen Reise. Nirgendwo zuvor hatte jemand Willkommen gesagt.“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 05.02.2016